Ich war Gestern auf einer Veranstaltung von Diplomaten und Aussenämtlern, die über die aktuelle Situation in libyen und das Verhalten der Bundesregierung dazu debatiert haben. Das war alles in allem mal wieder sehr Aufschlussreich und bei bin ich unter anderem auch auf die folgende lesenswerte Analyse gestossen:
Arabischer Raum / Libyen
Verband für Internationale Politik und Völkerrecht e. V. Berlin (VIP)
Publikationen von Mitgliedern des VIP
(die Verantwortung für den Inhalt der Beiträge liegt bei den Autoren)
Bator, Dr. Wolfgang:
"Ghaddafi und Libyens Islamisten"
Quelle: Autor,abgeschlossen 29.03.2011
„Mit massiven Luftschlägen ...sollen weitere Angriffe der Truppen des Diktators auf das eigene Volk verhindert werden“, schreibt die Märkische Allgemeine am 21.3.2011. Am gleichen Tage erklärt ein Sohn Ghaddafis, Saif al-Islam: „Der Westen unterstützt die Falschen, unser Kampf ist gegen Terroristen und deren Milizen gerichtet“ und er spricht vom Kampf gegen „bewaffnete Gangs“. Zwei Tage später ist in der Neuen Zürcher Zeitung von ihrem Korrespondenten Beat Amman aus Washington zu lesen: „Eine eher beunruhigende Seite von „Odyssey Dawn“ (d.h. der Operation gegen Libyen, W. B.) besteht darin, dass niemand weiß, wer die Rebellen gegen Ghaddafi eigentlich sind.“
Welchen Charakter hat nun tatsächlich die Oppositionsbewegung gegen Ghaddafi? Ist es das Volk, das gegen sein Regime kämpft, sind es Aufständige, Rebellen oder Terroristengruppen? Bis zum heutigen Tag wurde weder von Politikern noch von Medien diese Frage gestellt und versucht, sie zu beantworten. Weiß man es wirklich nicht – oder will man es nur nicht wahrhaben?
Die von Ghaddafi und seinen „Freien Offizieren“ nach ihrer Machtergreifung 1969 herbeigeführten radikalen Veränderungen stießen auf den Widerstand breiter Kreise. „Die Reichen und Privilegierten, die traditionellen Stammesführer und die religiösen islamischen Eliten nahmen den Verlust ihrer Macht nicht widerstandslos hin“, heißt es in einem Artikel der US Library of Congress [1]. Die Oppositionsbewegung gegen Ghaddafi umfasste Teile der bewaffneten Kräfte, der Universitätsstudenten, Intellektuellen, Technokraten und Stammesführer. Und so kann es nicht erstaunen, dass sich durch die gesamte Herrschaft Ghaddafis eine Kette von Verschwörungen, Putschen, Umsturzversuchen und Attentaten hinzieht.
Die Opposition im Exil, unter den Studenten und den Stämmen
Im Exil soll es mehr als zwanzig libysche Oppositionsgruppen geben. Bereits 1969 und 1970, unmittelbar nach der Revolution, wurden zwei Putschversuche von Anhängern des gestürzten Königs Idris von Ghaddafis Armee und Sicherheitsdiensten niedergeschlagen. Darin waren Angehörige des alten Königshauses verwickelt. Die bedeutendste Oppositionsgruppe im Ausland ist die „Libyan National Salvation Front“ (LNSF), die 1981 gegründet wurde und die sich zu dem fehlgeschlagenen Attentat auf Ghaddafi in dessen Hauptquartier Bab al Aziziyah am 8. Mai 1984 bekannte. Die LNSF-Angreifer waren vom amerikanischen CIA ausgebildet und unterstützt worden. Die Zahl der von libyschen Sicherheitsdiensten Verhafteten soll über 2000 liegen, acht wurden öffentlich hingerichtet. Neben der LNSF besteht die 1982 in Kairo gebildete „Libyan Liberation Organisation“, die seit 1987 von Abdul Hamid Bakkush, der unter König Idris Minister gewesen war, geleitet wird. Neben diesen gibt es die Organisation „Al Burkan“, der Vulkan, die verantwortlich sein soll für die Ermordung zahlreicher Libyer im Ausland. Weniger bekannt ist die mit dem Irak liierte „Libyan Constitutional Union“, die vom ersten libyschen Premierminister al-Maghrabi, einem rechten Anhänger Idris geführt wird. All diese außerhalb Libyens agierenden Oppositionsgruppen sind zersplittert, uneinig in Grundfragen und blieben bisher weitgehend uneffektiv. In den Informationen über die gegenwärtigen Gegner Ghaddafis wurde bisher keine dieser Organisationen erwähnt.
In der ersten Jahren nach der Revolution bildeten Studentenrevolten an Libyens Universitäten die sichtbarsten Zeichen einer Opposition. Doch die Studentenbewegung war untereinander uneinig und spaltete sich bald auf in Befürworter und Gegner der Revolution. Die Mehrzahl der Studenten wurden Anhänger der Ideen Ghaddafis, die er im „Grünen Buch“ dargelegt hatte. 1976 kam es an der Universität von Benghazi zu Unruhen unter den Studenten, die gegen die Einmischung des Staates in die Wahl der Vertreter der Studentenunion demonstrierten. Sicherheitskräfte besetzten das Campus, schlugen die Unruhen gewaltsam nieder und verhafteten Studenten. Von da an gab es immer wieder Informationen über Studentenunruhen. 1984 wurde auf dem Gelände der Al Fatah Universität ein Mitglied eines Revolutionskomitees getötet. Zwei Studenten wurden öffentlich hingerichtet. Bei den gegenwärtigen Unruhen gibt es keinerlei Informationen über Beteiligung von Studentenbewegungen oder -gruppen.
Die Stämme sind in Libyen nach wie vor Faktoren in der Politik und wichtig für die Machtausübung. Bis zu Ghaddafis Revolution von 1969 bestanden sie als selbständig handelnde politische, ökonomische und militärische Einheiten. Die Stämme zerfallen in Unterstämme, Clans und Familien. Weder der Ölreichtum, noch der Einfluss der Revolution Ghaddafis haben das auf Stammeszugehörigkeit und Stammestreue bestehende Netz zerstören können, das für die nationale politische Szene seit Jahrhunderten von Bedeutung ist. Das erklärt den gegenwärtig offensichtlich auf Stammeslinien verlaufenden Verfall staatlicher Strukturen.
Ghaddafi versuchte die Stämme mit Geld zu beeinflussen, auch wird behauptet, dass er den Stamm, dem er selbst entstammt, bevorzugte. Die Stammestreue und die unter den Stämmen bestehende Differenzen, um nicht zu sagen unterschwelligen Feindschaften glaubte er für seine Herrschaft ausnutzen oder negieren zu können. Das rächte sich, indem bei den jüngsten Demonstrationen gegen ihn die alten Stammesdifferenzen wieder aufbrachen. Mitglieder von Stämmen die einst zu seinen Anhängern zählten, setzten die Interessen des Stammes über die Ghaddafis und wandten sich von ihm ab. Zu Ghaddafis Herrschaft bekämpfenden Kräften können die Stämme der Maghrebi, Zwaiye, Zawawi, Faqri und Gebayli gezählt werden. Sie sind der Ansicht, dass die gegenwärtigen Kämpfe kein Bürgerkrieg sind, sondern eine Revolution mit dem Ziel Ghaddafi zu stürzen und Libyen aus seinem gegenwärtigen Zustand der Spaltung und der Anarchie herauszuholen und wieder zu vereinen.
Die militärische Opposition
Die ernsthaftesten Bedrohungen seines Regimes sah Ghaddafi mit Recht jedoch nicht in den Exilorganisationen, der Studentenbewegung oder den Stämmen, sondern von Seiten der Armee und den traditionellen islamischen Geistlichen.
Die von Ghaddafi geschaffenen Revolutionskomitees versuchten im Laufe der Jahre ihren Einfluss und ihre Macht auf Kosten der Armee zu vergrößern. Die Armee wiederum wehrte sich gegen die Einmischung der Revolutionskomitees in Fragen der nationalen Sicherheit 1986 kam es im Gefolge des Versagens der libyschen Abwehr gegen den Luftangriff der USA gegen Tripolis und 1987 auf Grund der Niederlage der Truppen im Krieg mit dem Tschad zu Unruhen unter den Offizieren. Im Exil formierte sich eine so genannte „Libyan National Army“, der vor allem ehemalige Armeeangehörige angehörte, die als Kriegsgefangene im Tschad gewesen waren.
In den 90-iger Jahren wurde die Armee für Ghaddafi eine immer größere Bedrohung. Im Oktober 1993 zerschlug Ghaddafis Sicherheitsdienst ein Komplott, in das sowohl Offiziere als auch Angehörige des Warfallah Stammes verwickelt waren. Daraufhin führte er eine kontinuierliche Rotation der oberen Offiziersränge ein und veranlasste die für ihn gefährlichsten zur Pensionierung. Doch trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen gehen auch weiterhin die meisten Attentatsversuche gegen Ghaddafi auf Rechnung der Armee, gab es doch von Armeekreisen während seiner ganzen Zeit zahlreiche Verschwörungen und Attentate. Kenner und Beobachter der Entwicklung in der libyschen Armee gingen deshalb bisher davon aus, dass die Militärs diejenigen Oppositionskräfte seien, die allein imstande wären Ghaddafi zu stürzen. Doch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, Wochen nach Ausbruch der Unruhen in Libyen, zeichnet sich nicht ab, dass militärische Überläufer und Dissidenten die eigentlichen Träger des Widerstandes gegen Ghaddafi sind. Einzelne Offiziere und Armeeangehörige sind zwar zu den Rebellen übergelaufen, doch es ist nicht bekannt, dass ganze Armeeeinheiten sich in die Front der Gegner des Regimes eingereiht hätten und sich als geschlossene Formationen an den Kämpfen beteiligen würden.
Die religiöse Opposition
Am 23. März 2011 schrieb der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, Beat Amman: „Laut Berichten in amerikanischen Medien haben Ghaddafis Geheimdienste mit der CIA zusammengearbeitet, um islamistische Extremisten zu bekämpfen. Die al-Qaida ist demnach in Libyen kaum präsent.“ Ist dem wirklich so? Meiner Ansicht nach spielen die islamistischen Kräfte unter Führung der traditionellen islamischen Geistlichen eine wichtige Rolle bei den Unruhen. Das widerspricht bisherigen Auffassungen, erklärt sich jedoch aus der Haltung, die Ghaddafi zum Islam bezieht.
Im April 1973 verkündete Ghaddafi seine „Dritte Universaltheorie“ und rief zu einer Kulturrevolution auf. Zu den einzelnen Aspekten dieser Revolution zählte auch die Anpassung der noch geltenden Gesetzgebung an die Scharia. Bereits 1971 waren Komitees gebildet worden, deren Auftrag es war, diese Gesetzgebung in Übereinstimmung zu bringen mit den Regeln der islamischen Scharia, denn die 1977 beschlossene Verfassung legte fest: „Der Heilige Koran ist der soziale Kodex der „Socialist People’s Libyan Arab Jamahiriya“.
Die Einführung einer islamischen Gesetzgebung wurde anfangs von dem traditionellen islamischen Establishment begrüßt und unterstützt. Doch das änderte sich bald. Die in Ghaddafis „Grünen Buch“ formulierte „Dritte Unversaltheorie“ sollte ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus sein. Diese Gesellschaftstheorie ist zwar utopisch, doch zugleich ist sie in ihren Grundprinzipien säkular, angelehnt an westliche Theorien. Der Islam wurde in der Verfassung festgeschrieben, doch die alles beherrschende Rolle kommt laut dieser Theorie dem Staate zu. Praktisch besteht in Libyen die Trennung zwischen Staat und Religion. Parteien islamischen Charakters, islamische Wohlfahrtsorganisationen und auch die Moscheen mit den zumeist politisch gefärbten Freitagspredigten spielen im öffentlichen Leben keine große Rolle, ebenso wenig wie die traditionellen islamischen Prediger und Gelehrten selbst.
Ghaddafi betrachtet den Text des Koran als die alleinige Quelle der Scharia. Die traditionelle Rolle der islamischen Juristen und Gelehrten, die sich als Interpreten der Korantexte sehen, wird von ihm abgelehnt. „Wie andere auch, forderte er (Ghaddafi) eine Rückkehr zur Quelle, zum Koran. Doch im Gegensatz zu anderen Reformern, schloß er die „hadith“ und die „sunna“, das heißt die Interpretationen der Aussprüche und Handlungen des Propheten als Quellen der Gesetzgebung aus. Indem er diese ....... in Frage stellte, schloss er tatsächlich damit das gesamte Gebäude der traditionellen islamischen Jurisprudenz aus.“[2] Ghaddafi selbst versuchte angesichts der modernen Entwicklungen und den daraus erwachsenden Erfordernissen, den Koran neu zu interpretieren, denn er fühlte sich zum islamischen Reformator berufen. Nach seiner Interpretation des Islam ist der Koran in Arabisch für alle lesbar und bedarf deshalb keiner Vermittler zwischen Gott und den Menschen. Letztendlich lief alles darauf hinaus, das das „Grüne Buch“ die Scharia als Grundlage der libyschen politischen und sozialen Entwicklung ersetzen sollte.
1977 unternahm Ghaddafi einen weiteren gewagten, äußerst kontroversen Schritt: Er veränderte den islamischen Kalender. Der geltende Kalender der Mohammedaner beginnt mit dem Tage der Übersiedllung des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina. Ghaddafi jedoch verkündete, dass der Kalender nunmehr mit dem Tage des Todes des Propheten beginnen solle.
Die traditionelle islamische Geistlichkeit war empört ob dieser Gotteslästerung. Die islamischen Prediger und islamischen Juristen klagten ihn auf Grund dieser Abweichungen von der islamischen Tradition der Ketzerei an.
Die offene Konfrontation mit den islamischen Geistlichen und Gelehrten begann Mitte der siebziger Jahre, als die Geistlichen anfingen, einzelne der eigenwilligen und radikalen Ansichten Ghaddafis öffentlich zu kritisieren. 1978 warnte Ghaddafi die islamischen Geistlichen, sich nicht in staatliche Angelegenheiten einzumischen, ließ Moscheen schließen und einige der Prediger durch dem Regime genehmere ersetzen. In den achtziger Jahren, als das Problem des Terrorismus international eine immer größere Rolle spielte, begann er eine anti-fundamentalistische Politik einzuleiten, denn er sah im islamischen Fundamentalismus den Sammelpunkt für die Oppositionsbewegung gegen ihn. Die Revolutionskomitees überwachten von da an rigoros die Moscheen, die Imame und die fundamentalistische Strömung.
Einen seiner Hauptfeinde sah Ghaddafi in den „Moslembrüdern“[3] sie wurden verboten, ihre Führer gingen ins Exil doch die Organisation arbeitete illegal weiter. Im März 1987 wurden neun Moslembrüder, die die Ermordung eines sowjetischen Beraters geplant hatten, hingerichtet. Bereits 1986 war ein Mitglied der Revolutionskomitees von einer bis dahin unbekannten fundamentalistischen Oppositionsgruppe, der „Hisbollah“[4] ermordet worden. Ende 1986 wurden die 48 islamischen Institute, die es in Libyen bis dahin gab, geschlossen, um damit den wachsenden Einfluß der islamischen Opposition einzudämmen..
Vor dem gegenwärtigen Bürgerkrieg stellte die „Libyan Islamic Fighting Group“ (LIFG), die Organisation dar, die für Ghaddafis Regime am gefährlichsten war. Sie versuchte im Osten des Landes erfolglos einen Aufstand zu organisieren und führte drei Attentatsversuche auf Ghaddafi durch. Die LIFG war Mitte der neunziger Jahre gegründet worden von libyschen Veteranen der Afghanistan-Kämpfe gegen die sowjetische Besatzung. Es gab Berichte, daß über 1000 libysche Mitglieder der LIFG in der Zeit vor dem 11. September 2001 in afghanischen Trainingslagern der Taliban ausgebildet worden sind. Etliche Mitglieder der Organisation rechneten sich zur al-Qaida, während andere Bin Laden ablehnten und sich auf den Kampf gegen Ghaddafi orientierten. Ghaddafi verfolgte die LIFG erbarmungslos. Die Führer der Organisation wurden inhaftiert, im Ausland befindliche Persönlichkeiten entführt und nach Libyen zurückgebracht. 1990 erfolgte in Libyen ein Aufstand der Islamisten. Wenige Fakten wurden davon bekannt, doch man wusste, dass insgesamt 177 Kämpfer der LIFG bei den Kämpfen von libyschen Sicherheitskräften getötet wurden.
2006 änderte Ghaddafi seine Politik und orientierte auf eine Annäherung an den Westen. Er verzichtete auf die Kernforschung und auf Massenvernichtungswaffen, stellte sein Programm zum Bau von weit reichenden Raketen ein und begann auch mit den USA auf dem Gebiete der Terrorismusbekämpfung zusammenzuarbeiten. Er stellte wichtige Informationen über die al-Qaida und deren Operationen zur Verfügung und ließ als erstes Land Bin Laden von der Interpol auf die rote Liste setzen. Im Gegenzug erreichte er, dass die USA die LIFG auf die Liste der terroristischen Organisationen setzte und der Mitgliedschaft in der LIFG Verdächtige an Libyen auslieferte.
Gleichzeitig mit dieser Änderung seiner Politik, begann das Regime auch seine Haltung zum Islam zu verändern. Dies erfolgte nicht zuletzt auf Druck der internationalen Gemeinschaft, die Ghaddafi der kontinuierlichen Verletzung der Menschenrechte und der Unterdrückung seines Volkes anklagte. Wenn auch die grundsätzlich harte Linie in der Bekämpfung des Fundamentalismus nicht aufgegeben wurde, so wurde jedoch nun von Ghaddafi eine flexiblere Taktik angewendet, um dem Islam als Staatsreligion mehr Rechnung zu tragen.
In der LIFG sah Ghaddafi die größte Herausforderung für sein Regime. Diese Organisation zu neutralisieren wurde zum wichtigen Anliegen. Es kam zu Kontakten mit der LIFG, und zum Dialog, an dem sich neben dem vom Regime inhaftierte Vertreter der Führung und auch Persönlichkeiten der LIFG im Exil beteiligten. Regelrechte Verhandlungen fanden nach 2007 statt. Sie standen unter der Leitung eines Sohnes von Ghaddafi, Saif al-Islam und einem der prominentesten islamischen Gelehrten, Sheik Ali al-Salabi. Sie waren möglich geworden, nachdem die LIFG ein Manifest herausgegeben hatte in dem sie ihre harte fundamentalistische Linie abschwächte. Es trug den Titel : „Studie zur Korrektur der Doktrin des Jihad... und deren Regeln.“ Damit gelang es, den radikalen Charakter dieser Bewegung so weit abzuschwächen, das sie nach Ghaddafis Auffassung keine akute Gefährdung des Regimes mehr darstellte. Gleichzeitig bot das Regime, wiederum auf internationalen Druck hin den verhafteten Extremisten der LIFG eine Möglichkeit zur Rehabilitation. Der Grundsatz nachdem diese rehabilitiert werden sollten war einfach: Die islamistischen Kämpfer sollten ihre Freiheit erhalten, wenn sie bereit waren der Gewalt abzuschwören und die Legitimität der libyschen Regierung anzuerkennen. Zugleich sollten die freigelassenen islamischen Extremisten ein Rehabilitationsprogramm absolvieren, wie es bereits in Saudi Arabien und im Yemen zur Anwendung gekommen war – und das unter internationaler Aufsicht.
Auf dieser Grundlage wurden im Verlaufe der letzten Jahre Hunderte von libyschen Islamisten freigelassen, allein während der letzten zwölf Monate vor Beginn des Bürgerkrieges 350 Inhaftierte. Darunter befanden sich Mitglieder der LIFG und anderer extremistischer islamischer Organisationen, Moslembrüder und junge islamische Kämpfer, die entweder im Irak gekämpft hatten oder versucht hatten dorthin zu gelangen, um gegen die amerikanische Besatzung zu kämpfen. Wenige Tage vor dem Beginn der gegenwärtigen Unruhen, am 16. Februar 2011, entließ das Regime noch einmal 110 Inhaftierte der LIFG darunter Abudulwahab Muhammad Kayid, ehemaliger Kommandeur der LIFG und ein Bruder von al-Libi, einem Sprecher der al-Qaida. Al-Libi war 2002 in Afghanistan von der NATO gefangen genommen worden und 2005 aus dem Bagramer Gefängnis in Afghanistan entflohen. Er hält sich wahrscheinlich im pakistanischen Grenzgebiet auf. Nach einer Information der Jamestown Foundation vom 17. März 2011[5] rief al-Libi sofort bei Beginn der Unruhen das libysche Volk auf, dem Beispiel des libyschen Nationalhelden Omar al-Mukhtar, der gegen die italienische Besatzung gekämpft hatte, zu folgen und den Heiligen Krieg zu erklären, der die einzige Lösung für Libyen sei.
Insgesamt schätzt man, dass Ghaddafis Regime während der letzten Jahre über 700 inhaftierte Islamisten entlassen hat. Zu diesen Freilassungen schreibt der Wissenschaftler Christopher Boucek vom Carnegie Endowment in einem Kommentar vom 9. März 2011: „Das war keine Rehabilitation oder Wiedereingliederung, sondern einfach eine Entleerung eines Gefängnisses. Da kein Rehabilitationsprogramm durchgeführt wurde, gibt es keine Möglichkeit die Auswirkungen zu verfolgen, insbesondere, was die Abschwörung vom Terrorismus angeht......Auf meinen persönlichen Eindrücken basierend scheint es mir, dass nur sehr wenige der Freigelassenen wirklich auf ihre bisherigen Einstellungen verzichtet haben.....Jetzt steht die Frage, wo sind diese Freigelassenen und was machen sie?“[6]
Weiterhin gelang es, nach einer Reutermeldung vom 17. Februar 2011, zu Beginn der Unruhen 1000 Inhaftierten, darunter zahlreichen Islamisten, aus dem Gefängnis in Benghasi zu entfliehen, nachdem dies von den aufständischen Rebellen gestürmt worden war.
Wohin geht Libyen?
Alles spricht dafür, dass sich die Mehrzahl der Islamisten, die zumeist einen terroristischen Hintergrund haben, den Aufständischen gegen Ghaddafi angeschlossen haben. Sie haben, im Gegensatz zur Mehrheit, den militärisch unerfahrenen Studenten, Lehrern und Angestellten, militärische Kampferfahrung - und sie haben, „Zugang zu den Waffenlagern und den ungenügend bewachten Lagern chemischer Waffen“[7]. Sie können seit Beginn der Unruhen in einem zerfallenden staatlichen Umfeld frei agieren und vermutlich stellen sie den harten Kern des Aufstandes dar. An der Äußerung von Ghaddafis Sohn, Saif al-Islam, man kämpfe gegen Terroristen könnte also durchaus etwas sein. Nach Presseveröffentlichungen ziehen sie in den Kampf mit dem traditionellen arabischen Schlachtruf „Allahu Akbar“, Gott ist groß. [8]
Letztlich ist es, ungeachtet gegenteiliger Beteuerungen, die Absicht der in der Militärkoalition beteiligten Staaten, das Regime Ghaddafis zu beseitigen, um Libyen Demokratie und Freiheit zu bringen und das westliche Wertesystem zu vermitteln. Im Gegensatz zu anderen Gruppierungen der Aufständischen, besteht jedoch das Ziel der islamistischen Extremisten nicht nur darin, die Diktatur Ghaddafis zu beseitigen. Für diese Islamisten ist der Islam die entscheidende Motivation ihres Kampfes, sie wollen den säkularen Charakter Libyens verändern, entsprechend den Regeln des islamischen Fundamentalismus. Und sie können sich in diesem Kampf der Unterstützung von Teilen des libyschen Volkes, das die Herrschaft Ghaddafis ablehnt und gleichzeitig eine stärkere Orientierung auf den Islam begrüßen wird, gewiß sein.
Sollten die Aufständischen siegreich sein, dann dürften in einer kommenden libyschen Regierung die Islamisten mit eine Rolle spielen – und damit den Charakter des Landes und sein Machtsystem mit prägen. Doch „gleichgültig ob es Ghaddafi oder die Rebellen sind, die siegen werden, es besteht die Gefahr, dass diese Islamisten die Sicherheit in Libyen, die Stabilität der Region und auch die nationalen Interessen der USA und seiner Verbündeten gefährden. All dies ist wahrscheinlich, da Libyen in ein Chaos abgeglitten ist.“ [9]
[1] The opposition to Qadhafi, US Library of Congress, 1988.
[2] desgl. a.a.O.
[3] Die Moslembrüder, die auch in anderen arabischen Staaten organisiert sind, traten in den Unruhen in Ägypten als eine der stärksten Oppositionsgruppen hervor. Sie wurden von Mubarak verboten, verfolgt und brutal unterdrückt. Sie haben die größten Chancen, bei den kommenden Wahlen in Ägypten eine entscheidende Rolle zu spielen.
[4] Die Hisbollah wurde in den Folgejahren im Libanon die stärkste islamische Gruppierung, fügte Israel bei dessen Libanonaggression von 2006 eine Schlappe zu und stellt in der gegenwärtigen libanesischen Regierung mehrere Minister.
[5] Ryan, Michael, What do the uprisings in the Middle East mean for Al-Qaida? Jamestown Foundation,
Terrorism Monitor, 17 march 2011.
[6] Boucek, Christopher, Dangerous Fallout from Libya’s Implosion, Carnegie Endowment.
Commentary, 9 March 2011.
[7] desgl. a.a.O.
[8] Derek Henry Flood, Assessing Libyan Rebel Forces, Jamestown Foundation, Terrorism Monitor, 3 March
2011
[9] Boucek, a.a.O.